Martina – Schicksal wurde, was sie daraus machte
January 11, 2016
Fortuna ist eine Sadistin. Zumindest würde das einiges erklären. Denn seit alters her verteilt sie Fluch und Segen wie Streusalz. Ihr wilder Spieltrieb unterscheidet nicht zwischen Gut und Böse. Hoffnungen erliegen dem Zufallsprinzip à la Russisch Roulette und Träume landen mit kraftvollem Tritt im Abseits. Vom naiven menschlichen Gerechtigkeitssinn hat sich Fortuna in den Jahrtausenden ihrer Regentschaft den Spaß nicht verderben lassen. Derartig zeitraubende Spitzfindigkeiten überlässt sie der blinden Justitia, die mit dem Terminus ja bekanntlich ihre ganz eigene Last hat.
Das Gefühl, den Launen des Schicksals hilflos ausgeliefert zu sein, brachte Menschen in der Vergangenheit auf die irrwitzigsten Ideen. Fortuna zu Ehren bauten sie riesige Tempel und opferten nicht selten ihr komplettes Hab und Gut, um das Unheil abzuwenden. Ja selbst Fußballvereine wurden bei der Namensgebung nicht verschont. Sonderlich beeindruckt hat das die unstete Göttin allerdings nie. Auch wurden Orakel befragt, um hinter die Systematik ihres Handelns zu kommen. Aber Regeln gelten für Fortuna nicht, sie lässt sich nicht berechnen. Und was nun? Erstarren im Fatalismus? Unterwerfung durch Verehrung frei nach Carl Orff: „Fortuna Imperatrix Mundi“? Oder, um es auf Deutsch zu sagen: „Fortuna, Herrin der Welt“? Bei aller Liebe für Orffs berauschend schöne Hymne an die Schicksalsgöttin: Nein! Soweit kommt es noch! Es gibt Menschen, die dem Schicksal unbeugsam und permanent die Stirn bieten. Und das macht sie weitaus mächtiger als Fortuna es je sein könnte.
Martina ist streng genommen meine Tante, obwohl uns nur 3 Lebensjahre trennen. Unsere Kindheit hindurch verbrachten wir viel Zeit miteinander. Und deshalb ist sie gefühlt auch eher so etwas wie eine ältere Schwester für mich. Tina war mein erstes großes Vorbild. Immer war sie mir 3 Jahre voraus und immer wollte ich so sein wie sie. Was nicht zuletzt daran lag, dass ich, soweit ich zurück denken kann, ihre Klamotten auftragen musste. Tina schien immer genau zu wissen, was sie wollte und was nicht. Früh erlangte sie ihre Unabhängigkeit, hatte ihre eigene kleine Wohnung und verdiente ihr Geld auf die harte Tour in der Altenpflege. Meine unsicheren Schritte ins Erwachsenenleben hat sie durch ihr Vorbild maßgeblich mitgeprägt. Ich erinnere mich beispielsweise an die erste Tanzveranstaltung zu der sie mich mitnahm, staunend saß ich in der Ecke, hielt mich an meiner Fanta fest und sah zu, wie Tina elegant und grazil über das Parkett gewirbelt wurde. Wäre es nach mir gegangen, ich wäre gern unsichtbarer Zuschauer geblieben aber Tina nötigte ein paar große Jungs, mir erste Tanzschritte beizubringen. Meine zwei kleinen, linken Füße und meine große Schüchternheit wurden auf eine harte Probe gestellt aber nie zuvor hat mir etwas so viel Freude gemacht. Es hatte enorme Vorteile, die kleine Nichte von Martina zu sein.
Selbstbewusst, stolz und schön – Tina lagen die coolen Jungs zu Füssen. Aber als sie sich in Dietmar verliebte, wusste die ganze Familie sofort: das ist er, Tinas große Liebe. Denn natürlich hatte sie besonnen und überlegt gewählt. Dietmar schlossen wir alle sofort ins Herz, er war hilfsbereit, sensibel, bodenständig, liebenswert. Die Beziehung wirkte ausgeglichen und harmonisch. Dietmars große Leidenschaft war das Motorrad fahren. Also machte Tina ebenfalls den nötigen Führerschein und fuhr zu unser aller Entsetzen diese schnellen Höllenmaschinen – ich meine die, bei denen es so aussieht, als wäre der Kopf dem Asphalt näher als der Hintern.
Das Schicksal traf das Glück unvorbereitet. Dietmar erkrankte an Leukämie. Und es begann ein langer steiniger Leidensweg. Auf Hoffnung folgte Enttäuschung und darauf wieder Hoffnung. Nach einer Rückenmarkstransplantation heirateten Martina und Dietmar. Kurzdarauf wurde Sohn Joshua geboren und das Glück schien ihnen wieder gewogen zu sein. Dann der erneute Rückschlag, Hirnhautentzündung, in deren Folge Dietmar sein Gehör verlor. Tina passte sich den jeweiligen neuen Bedingungen schnell an und animierte ihr komplettes Umfeld, es ihr gleich zu tun. Wir lernten, Dietmar durch Zettel schreiben und Zeichensprache in unsere Gespräche mit einzubeziehen. Er sollte sich nicht ausgegrenzt fühlen, nur weil die Stille ihn gefangen hielt. Tina konnte sehr ungehalten werden, wenn jemand aus Gedankenlosigkeit oder Unsicherheit gegen diese Form des Respekts und der Achtung verstieß.
Die Krankheit kehrte mit voller Wucht zurück. Tina kämpfte. Sie pendelte zwischen Arbeit, Kind und Krankenhaus hin und her. Schlussendlich nahm sie ihre große Liebe mit nach Hause und pflegte ihn. Dietmar starb im Alter von 35 Jahren in den Armen seiner kleinen Familie.
Es ist anfangs schwer vorstellbar, dass das Leben nach dem Tod eines geliebten Menschen einfach so weitergeht. Aber Tina packte es an, alles zu seiner Zeit. Sie trauerte, sie bewahrte Dietmars Andenken, sie hielt die Familien zusammen und sie baute sich Stück für Stück mit Joshua ein gefestigtes Leben auf.
Und dann geschah etwas, das niemand auch nur zu hoffen gewagt hatte – Tina verliebte sich erneut. Die erste Begegnung mit Oliver muss erdrutschartig gewesen sein, denn schon kurzdarauf zog sie mit Sack und Pack zu ihm. Ein derartiger Aktionismus konnte bei Tina nur bedeuten, dass sie sich von Anfang an sicher war, das Abenteuer Familie mit ihm wagen zu können. Und tatsächlich, Olli überzeugte mit Charme, Witz und purer Lebensfreude. Er machte Tina glücklich, gab ihr Halt und die Aussicht auf eine schöne gemeinsame Zukunft. Was folgte, waren neun glückliche Jahre.
Der letzte warme Sommertag Anfang September 2012 änderte alles. Auf einer sonntäglichen Fahrradtour nahm ein Autofahrer Olli die Vorfahrt. Die Hirnverletzungen, die er durch den Unfall erlitt, waren so schwer, dass er wochenlang zwischen Leben und Tod hin und her gerissen wurde. Als Oliver langsam aus dem Koma erwachte, war das eine medizinische Sensation. Die Hoffnung, dass langsam aber sicher alles wieder gut werden würde, war groß. Olli machte beeindruckende Fortschritte und die Ärzteschaft war begeistert. Aber nach Monaten des Hoffens wurde deutlich, dass der Unfall bleibende Schäden verursacht hatte. Teile von Olivers Gehirn sind irreparabel zerstört.
Wie Tina es schaffte, in dieser ausweglosen Situation die Ärmel hochzukrempeln, um sich für Ollis Würde gegen den aufkommenden Sturm von Ignoranz und Ungerechtigkeit zu stemmen, ist mir ein Rätsel - aber sie tat es. Nicht selten mit der Kraft der Verzweiflung - aber sie tat es. Sie übernahm Ollis rechtliche Vertretung und legte sich mit einfältigen Ärzten und sturen Anwälten an – bis heute.
Olli ist ein anderer geworden. Durch seine schwere Behinderung kann er Tina kein gleichberechtigter Partner mehr sein. Aber er ist weiterhin Teil ihres Lebens. Tina stellt sich den neuen Tatsachen und kämpft genau da weiter, wo es sich mit Blick auf die neue Situation auch lohnt. Sie animiert Freunde und Verwandte ihn neu kennenzulernen und zu akzeptieren. Und so gut es geht, bindet sie ihn in Alltägliches mit ein. Ihr Vorbild färbt ab. Olli ist nicht allein.
Tinas Schicksal ist für mich ein Beispiel dafür, dass wir leider kein verbürgtes Recht auf Glück haben. Was wir aber haben, ist die Freiheit der Gestaltung. Wer sein Schicksal in der Hand nimmt, ist nicht darauf angewiesen, dass ihm ein Gott je nach Laune jetzt oder in ferner Zukunft und fremder Dimension Gerechtigkeit widerfahren lässt. Niemand kennt die Zukunft und niemand kann sie beeinflussen aber wir können uns entscheiden, ob und wie wir mit den Geschehnissen umgehen. Auf diese Weise wird das Leben zwar nicht leichter aber lebbar.
Schicksal ist, dass Martina zu meinem Leben gehört. Und das ist mein ganz persönliches Glück, oh Fortuna!